Tagung „Individueller Universalismus? Sensus communis und reflektierendes Urteilen bei Kant und Arendt“, 04.12.2024 in Freiburg
Individueller Universalismus? Sensus communis und reflektierendes Urteilen bei Kant und Arendt
Tagung vom 04.12.2024
Tagungsbericht auf theorieblog.de
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Ort der Tagung: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, R 1003 (KG I)
Ort der Keynote: HS 1199 im Kollegiengebäude I, Platz der Universität 3, 79098 Freiburg i. Br., im Hörsaal 1098
Organisiert von PD Dr. Martin Baesler (Professur für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte) in Kooperation mit Kevin Licht (Institut für Philosophie, Universität Bonn)
Mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung und des Colloquium Politicum der Universität Freiburg
Im Kern von Kants Kritik der Urteilskraft (1790) steht die Frage nach der Geltungsgrundlage von Urteilen. Während die bestimmende Urteilskraft auf ein Allgemeines (den Begriff) zurückgreift, um Gegebenheiten zu kategorisieren, sucht die reflektierende Urteilskraft umgekehrt allgemeine Hinsichten von den Gegebenheiten aus. Sie konzipiert eine Allgemeinheit ohne Begriff. Ohne die Autorität des Begriffs ist allerdings fraglich, wodurch ein Urteil verbindlich wird – die variierenden Urteilsstandpunkte können sich nicht durch einen begrifflich-logischen oder moralisch-gesetzlichen Zwang überzeugen, sondern nur durch „Einstimmung“, „Beistimmung“ oder „Ansinnen“ an einen Konsens appellieren. Hannah Arendt sieht damit in der reflektierenden Urteilskraft eine Instanz zwangloser Übereinkunft und individueller Freiheit, die nicht moralisch oder institutionell voreingenommen ist, sondern aus dem Akt der Urteilsbildung selbst resultiert. Die Möglichkeit einer solchen individuell begründeten und dennoch universell gültigen Freiheit entwickelt Arendt von Kants Konzept des sensus communis aus.
Schon dem Wortsinn nach zieht der sensus communis zwei zunächst schwierig zu vereinigende Bereiche unmittelbar zusammen: Als Sinn bezieht er sich einerseits auf Erscheinungen, das Vielgestaltig-Disparate, das schon von einem einzelnen Erfahrungsstandpunkt aus nicht eindeutig zu erfassen ist und für eine Menge von Erfahrungsstandpunkten erst recht kaleidoskopartig auseinandertreten kann. Als gemeinschaftlicher Sinn bezeichnet er dennoch auf etwas von allen Geteiltes und begreift demnach eine Allgemeinheit in sich. Das Konzept des sensus communis lässt sich auch dementsprechend ambivalent gewichten: In Aristoteles’ koine aisthesis wird die Allgemeinheit etwa in den Akt der sinnlichen Wahrnehmung selbst verlagert. Locke und Shaftesbury sehen im common sense hingegen einen unmittelbaren lebensweltlichen Konsens, auf den die variablen sinnlichen Weltzugriffe latent reduzierbar bleiben müssen. Kant nimmt diese divergierenden Tendenzen des Konzepts auf und sieht im sensus communis, bzw. im Gemeinsinn eine leitende Idee insbesondere der (ästhetisch) reflektierenden Urteilskraft, da sie jenes Vermögen ist, das die Vermittlung von Begriff und Anschauung, Allgemeinem und Besonderem, vornimmt.
Es ist gut erforscht, dass der sensus communis bei Kant nicht auf einen sensus communis aestheticus reduziert werden kann, sondern darüberhinaus auch eine erkenntnis- und handlungsanleitende Funktion hat. Wie aber lässt sich die Freiheit des Urteilens in Handlungen übersetzen? Wie die vereinzelte Urteilsperspektive auf einen gemeinschaftlichen Horizont hin erweitern?
Arendt sieht in dieser Unschärfe das Potential zur politischen Aushandlung. Sie hat prominent die These vertreten, dass Urteilsautonomie auch praktische Orientierung verschafft und, da mit dem sensus communis eine ganzheitliche Perspektive des menschlichen Weltzugriffs eingenommen ist, insbesondere auch eine politische Haltung ausdrückt. Die politischen Gemeinplätze, die durch die Entwicklung der Massengesellschaften, Tendenzen der Ideologisierung bis hin zum Totalitarismus und die Vorreiterrolle der Wissenschaften und des technologischen Fortschritts mindestens fragwürdig, wenn nicht gar verloren gegangen sind, können in einer reflektierenden Urteilshaltung neu in den Blick genommen werden. Konkreter: Insofern es ein integrales Moment reflektierenden Urteilens ist, das Gedachte über die eigene Perspektive hinaus um die Ansichten der anderen zu erweitern, mitteilbar und publik, d.h. nachvollziehbar und anknüpfungsfähig zu machen, ist das reflektierende Urteilen immer auch gemeinschaftliches Urteilen. Die ‚erweiterte Denkungsart‘ des sensus communis stellt für Arendt demnach die eigentlich politische Urteilshaltung dar.
Die reflektierende Urteilskraft ist nach Arendt der Schlüssel im Umgang mit dem Freisein, der menschlichen Fähigkeit nämlich zum Beginnen und Neuanfangen im Handeln und Sprechen. Die Freiheit und die mit ihr verbundene Verantwortung kann neben dem Gefühl des Staunens ebenso das eines „Abgrunds des Nichts“ und der Last hervorrufen. In der für die Moderne kennzeichnenden Ratlosigkeit aufgrund weggebrochener metaphysischer Orientierungspunkte ist es nach Arendt entscheidend, den Sinn des freiheitlichen Handelns innerhalb der menschlichen Angelegenheiten selbst aus einem allgemeinen und unparteilichen Standpunkt heraus zu beurteilen – dem Standpunkt der Zuschauer. Dieser Standpunkt jedoch muss sich erst aus vielen verschiedenen Standpunkten zusammengesetzt haben und kann nicht (wie die Wissenschaften) von einem neutralen „archimedischen“, der Welt ausgelagerten Punkt aus eingenommen werden. Insofern liegt nach Arendt die Herausforderung darin, „seine Einbildungskraft im Wandern zu üben“, nämlich in der intersubjektiven Verknüpfung derjenigen Ansichten, die in Bezug auf das menschliche Handeln und politischer Ereignisse zur Teilnahme anregen und das Ansinnen eines gemeinsam geteilten, allgemeinen Standpunktes fördern. Die kritische Beurteilung politischer Verhältnisse und die Selbstverortung in der Gemeinschaft durch das Urteilen könnte als politische Hermeneutik aufgefasst werden. Am Ende stehe zu hoffen, dass die Menschen mit Hilfe ihres reflektierenden Urteilsvermögens die Freiheit zuvörderst als eins mit ihrem Handeln begreifen und nicht allein als souveräne Zielerreichung oder individuelle Entscheidungsfreiheit. Nach Arendt sind Handeln und Freisein dasselbe, im Handeln tritt das Prinzip der Freiheit in die Erscheinung und wird den Zuschauenden zugänglich. Freiheit ist demnach politisch.
Um das kantische Konzept des sensus communis mit Hannah Arendt fruchtbar weiterzudenken, wollen wir in diesem Workshop u.a. fragen: Wie lässt sich die reflexive Urteilsautonomie in eine politische Autonomie übersetzen? Worin genau liegt dann das politische Potential des reflektierenden Urteilens? Ermöglicht der sensus communis bzw. ein Urteilskonsens politische Integration? Lassen sich aus der Analyse der Urteilsautonomie konkrete Leitlinien politischer Freiheit gewinnen?
Die Tagungsbeiträge sind auf Deutsch und Englisch ohne Übersetzung. / Conference talks will be in German and English without translation.
Die Tagung ist als Präsenzveranstaltung geplant. / This is an in-person conference.
Die Teilnahme ist kostenfrei. Aufgrund der begrenzten Sitzplätze bitten wir um vorherige Anmeldung unter / Participation is free. Due to limited seating capacities, registration is required:
martin.baesler@politik.uni-freiburg.de